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Einstein in der Küche

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Wird Modernist Cuisine den Geschmack revolutionieren?


Die Grundidee von „Modernist Cuisine“ ist: Wissenschaft statt Bluff am Herd. Der Star auf der Paris Cookbook Fair, der Pariser Kochbuchmesse im März, war kein Autor oder Spitzenkoch. Es war das Buch Modernist Cuisine der Autoren Maxime Bilet und Nathan Myhrvold. Ein Wälzer der Superlative, verfasst mit einem Team von bis zu 40 Forschern und gerade im Selbstverlag erschienen, bislang nur in englischer Sprache. Nicht nur ein Buch, gleich fünf Bände, natürlich im Schuber, plus eines zusätzlichen Bands mit allen Rezepten auf wasserfestem Papier, der besonders küchentauglich sein soll.

Bereits in der Subskription wurden im englischen Sprachraum 4000 Exemplare abgesetzt – zum Preis von 625 Dollar. Ob „Modernist Cuisine“ letztendlich Gewinne erwirtschaftet, steht freilich in den Sternen. Die Entwicklungskosten werden auf zwei bis sechs Millionen Dollar geschätzt, Branchenkenner sehen sie eher bei letztgenannter Zahl. Nathan Myhrvold kann sich dieses Kochbuch leisten. Der ehemalige Chief Technology Officer bei Microsoft gilt als zweifacher Milliardär. Und als Genie: Princeton-Absolvent, Postdoktorat in Cambridge unter Stephen Hawking, Erfinder mit Hunderten von Patenten, Gründer des Unternehmens „Intellectual Ventures“, das seinerseits über tausende Patente verfügt. Außerdem ist Myhrvold ein anerkannter Fotograf: „Modernist Cuisine“ hätte wohl kein hauptberuflicher Foodfotograf besser ins Bild setzen können, was dem Leser hier geboten wird, verschlägt den Atem: Grill, Ofen und Mikrowelle wurden teils per Hochdruck-Wasserstrahl entzwei geteilt, einfach um den Leser zu erklären, wie welcher Garvorgang abläuft. Ein Detail hatte ich fast vergessen: Myhrvold hat einmal die Barbecue-Weltmeisterschaften in Memphis, Tennessee gewonnen und ging dem Küchenchef eines französischen Restaurants in Seattle zur Hand. Vielleicht auch deshalb ist „Modernist Cuisine“ kein „Molekularkochbuch“ – Myhrvold selbst lernt den Begriff „Molekularküche“ strikt ab.

Myhrvolds Werk erklärt schlicht und einfach jeden Garvorgang, den wir momentan kennen und räumt mit Vorurteilen auf. Es erklärt, warum Kochen schneller als Dämpfen ist oder wieso man Backen auch als Trocknungsprozess bezeichnen kann, es prangert Lücken in den Regelungen für Bioprodukte an (in den USA dürfen „bio“ rund 200 Additive zugesetzt werden). Und es erklärt jeden Garvorgang, egal ob Grillen, Kochen, Dünsten. Hier und da wird auch mit Zusatzstoffen geliert oder geklebt. Nun ist Myhrvold schließlich Wissenschaftler und lässt bei diesem Thema dieselbe Klarheit und Offenheit walten wie beim Kapitel zum Grill. Wer mit Activa Transglutaminase, Kelcogel oder Genuvisco, alles Handelsnamen von Zusatzstoffen, wirklich kochen möchte, der darf genau das natürlich tun. Nur sollte er das seinen Gästen nicht verschweigen. Dieses Buch beschreibt präzise und beschönigt nichts, da wird kein Zuckerester zur „Textura Sucro“. Aber noch etwas wird bei der Lektüre von Modernist Cuisine klar. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Labor im wissenschaftlichen Sinne und einem „Labor“, das ein Küchenchef betreibt. Das Labor des Wissenschaftlers dient der Forschung. Im Küchenlabor werden Rezepte ausprobiert und Gäste mit ein paar futuristischen Gerätschaften beeindruckt. Nun steht leider zu befürchten, dass einige Küchenstars den Wissenschaftler Myhrvold und sein Team vor den Karren ihrer Pseudoforschung spannen wollen.
JZ 

Die Köche Bilet, Young, Myhrvold (v.l.)

Geniales vom Hexer

Nathan Myhrvold: Koch, Tüftler, Forscher

Ist Modernist Cuisine das größte Kochbuch aller Zeiten? Es ist gewiss ein Magnum Opus. Mit 2400 Seiten, die sich auf sechs Bände verteilen, und einem Gewicht von stattlichen 20 Kilo. Auch der Preis von 625 Dollar verlangt nach einer dicken Geldbörse. Mit teilweise bis zu 40 Mitarbeitern haben der Autor und seine zwei Co-Autoren wie besessen an diesem Standartwerk gearbeitet. Nicht irgendwo, sondern in einer dafür entworfenen Mischung aus High Tech Küche und Physiklabor.Nathan Myhrvold beschreibt sachlich die Wissenschaft hinter der Kochkunst. In verschiedenen Kapiteln, wie Geschichte & Grundlagen, Technik & Ausrüstung, Tiere & Pflanzen, Zutaten & Vorbereitung. Dazu gibt es ein Küchenhandbuch sowie Rezepte. Der Autor erklärt, wie man Gerichte mit neuen Geschmacksrichtungen zubereiten kann, die zudem zu einer anderen Sensorik und Haptik führen. Myhrvold hantiert mit der Naivität des Wissenschaftlers, der sich nicht vorstellen kann, dass seine Praktiken in falsche Hände geraten könnten, mit Zentrifugen, natürlichen Hydrokolloiden, Emulgatoren und Enzymen. Er serviert uns dabei aber auch den ultimativen Hamburger (siehe Bericht „Der beste Hamburger der Welt“) Bei diesem ausgeklügelten und vor allem auf Geschmack setzenden Edelklops wird deutlich, dass Myhrvold kein Molekularkoch ist, sondern im Grunde seines Herzens ein hochsolider High Tech Griller. Das Werk bietet Chancen für die Küche, birgt aber auch Gefahren. Es wird auch hier wieder viele Trittbrettfahrer geben, die sich an einen bekannten Toptüftler anhängen und die neuen Ideen für eigene Zwecke umpolen.

Nathan Myhrvold aus Seattle ist ein ingeniöser Forscher und findiger Koch, der nach neuen Gartechniken sucht und sich für Sous-Vide begeistert (Garmethode für Fleisch, Fisch und Gemüse im Vakuumbeutel im Niedrigtemperatur-Wasserbad). Auch Niedrigtemperatur ist ein wichtiges Thema für ihn. „Ich liebe es, Short Ribs bei 54,4 Grad Celsius für 36 Stunden zu kochen, sagt Myhrvold, „Sie werden sehr aromatisch und haben eine andere Textur als die meisten Schmorbraten.“ Man sollte sich auch nicht von der Farbe beim Fisch täuschen lassen. „Kochen Sie Lachs 20 Minuten bei 40 Grad. Er wird noch roh aussehen, hat aber die Textur eines gekochten Fischs.“ Nach dem Sous-Vide Wasserbad möchte man manches Gericht ja mit einer schönen braunen Kruste versehen. Mit extremer Hitze in einer heißen Pfanne kommt man zu einem guten Ergebnis, doch noch besser ist nach Ansicht von Myhvold ein Bunsenbrenner.In seinem Forschungscamp bei Seattle brütet der schnelle Myhrvold immer wieder neue Ideen und Tricks aus – der Hurrikan-Bremser und der Malaria-Mücken-Laserkiller sind nur zwei auffällige Geistesblitze davon. Der 51 Jahre alte Physiker promovierte bereits mit 23 Jahren. Viel Gedanken hat er sich auch schon um die Beschaffenheit von Wackelpudding gemacht. Das Multitalent mit dem jugendlichen Lausbubengesicht wird sich und die Welt noch weiter überraschen.
PL

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