Mit Nietzsche zu kulinarischen und geistigen Höhen
Von Ludwig Fienhold
Die Kutscherin führt die Pferde von Pontresina durch das Roseg-Tal und lässt die Peitsche knallen – und schon sind wir bei Nietzsche, dessen schicksalhaftes Vermächtnis es ist, immer wieder auf diese eine Aussage mit der Peitsche und dem Weib reduziert zu werden. Engadin ist Nietzsche-Land, hier fühlte er sich wohl, hier schöpfte er aus der sinnstiftenden Natur die Kraft für seine Kopfarbeit, die jener Berg- und Talfahrt gleichkam, die auch die Landschaft kennzeichnet.
Nach einer beschaulichen Stunde wartet am Roseg-Gletscher ein Bilderbuch-Gasthaus, in dem mittags ein fulminantes Dessert-Buffet inszeniert wird, das die Tische biegen lässt: Apfelstrudel, Tarte Tatin, Crème brûlée, Rüblitorte, Früchteauflauf, Himbeergratin, Linzer-Torte, Zabaione, Sacher-Torte Zuppa Inglese, Nusstorte, Topfenstrudel, Engadiner Torte, frische Beeren und eine Vanillesauce, die genauso gut gemacht ist, wie alles andere. Wer von diesem Zuckerberg auch nur zwanzig Prozent runterschleckt, darf nicht mehr die Kutsche nehmen und muss zu Fuß zurück nach Pontresina wandern.
Das Engadin ist zu jeder Jahreszeit ein Fabelwesen, meist aber ein Faun von feinfühliger Derbheit. Die seelenvolle Ruhe der Seen und die massive Bedrohlichkeit der Berge ergeben nur augenscheinlich ein schwankendes Bild, denn sie sie sind mehr Einheit als Widerspruch. Der stets im Widerspruch mit sich und der Welt lebende Nietzsche konnte dies nur als spannungsreich empfinden. „Im Engadin ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden“, schreibt er. „Es kann gar nicht still und hoch und einsam genug um mich sein.“ Durch den Riss in seiner Seele schimmerte ihm hier, „wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen“. Wer in der Landschaft des Engadins nicht zu eindringlichem Nachdenken gebracht wird, hat auch sonst nichts zu Begreifen.
Schnell anfreunden kann man sich nicht nur mit der Natur, die Menschen und die Küche geben auch Gelegenheit dazu. Als Friedrich Nietzsche als feingezwirnter Herr mit rotem Schirm erstmals im Engadin auftauchte, war er ein Exot. Längst ist die Schweizer Alpenregion weit merkwürdigere Menschen mit weniger Verstand gewohnt. Die Gletscher schlucken alles, das Bergvolk lässt sich nicht aus seiner Ruhe bringen.
Essen kann man im Engadin gut, vor allem die Basis stimmt. Nietzsche, der mehr über Kulinarisches redete als philosophierte, beklagte das dumpfe Essverhalten der Deutschen und die trockene Trunkenheit der Burschenschaften. In der Schweiz schlürfte er belustigt seinen Fendant und futterte auch gerne ein gutes Wurstbrot. Er schätzte die einfachen Dinge und unterhielt sich gerne über das vermeintlich Schlichte. Anfangs musste ihm seine Mutter regelrecht zum Essen ermuntern, später erkannte er darin durchaus eine Quelle der Lust.
Von einer schlichten Schönheit, wie sie nach dem Geschmack Nietzsches gewesen sein könnte, ist die Alphütte Morteratsch. In der Käserei können Gäste sehr anschaulich die gesamte Herstellung verfolgen. Beim Käsemachen hat Peter Maurer noch Zeit genug, zu erklären, dass er gerne Whisky mag und auch schon oft in Schottland war. Er rührt konzentriert mit stoischer Miene im riesigen Käsekessel, wie ein Druide, mit dem Wissen, etwas ganz Besonderes zu schöpfen. Später wird daraus ein Gletschermutschli, ein ganz feiner und zarter Käse. Er ist Primus auf einer vortrefflichen Vesperplatte, die an den blanken Holztischen von freundlichen Mägden serviert wird.
Von dieser geselligen Runde bis zum Ruhepol Nietzsches ist es gedanklich näher als geografisch. „Die Einsamkeit ist ungeheuer“, notierte er sich bei seinen Spaziergängen durch die Natur Engadins. Er war ein Wanderer, ein seelenvoller Wanderer, für den jeder Gang zum Erkenntnisweg wurde. Die Stelle, an der er seinen großen Grundgedanken von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen hatte, findet man bei Surley. Dort entwarf er 1881 seinen tiefgründigen Zarathustra, jenes Buch, das all sein Sinnen zusammenfasst. „6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit, und viel höher über allen menschlichen Dingen.“ Dieser Ort am Silvaplana-See hat etwas Magisches. Der See verschwimmt. Man versinkt in sich. Und taucht wieder auf, taufrisch und mit den reingewaschenen Gedanken. Der Silvaplana-See ist eine Inspirationsquelle. Nietzsche ist dort so nah wie kaum sonst. Ein springender Funke aus dem Zarathustra steht hier in Stein gemeißelt: „Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Flach mochte es Nietzsche nicht, er stieg ganz hoch ins „Gebirge der Wahrheit“ und entdeckte Abgründe. Das Hotel Waldhaus in Sils-Maria thront als Märchenschloss über den Wipfeln, als sei es dem Zauberberg von Thomas Mann entsprungen. Die Grandezza der Gründerzeit lockte viele kluge Köpfe: Albert Einstein, Thomas Mann, Herrmann Hesse, Thomas Bernhard, Friedrich Dürrenmatt und, ja, auch Theodor Adorno, der dem Engadin so gar nichts außer ein paar Boshaftigkeiten abgewinnen konnte. Und Nietzsche? Nein, der durfte dort nicht logieren, da das Waldhaus erst einige Jahre nach seinem Tod 1908 eröffnet wurde. Friedrich Nietzsche quartierte sich ab 1881 sieben Sommer in Sils-Maria im Haus der Familie Durisch ein und wohnte in einem kleinen Zimmer im 1. Stock zur Untermiete. Jeder Winkel flüstert Geschichte, die Dielen knarzen eine uralte Melodie. In dieser wundersamen, zeitabgewandten Atmosphäre meint man Nietzsche noch atmen zu hören. Alles hier lässt den Philosophen lebendig werden, auch die Gespräche mit der Kuratorin Mirella Carbone, die das Nietzsche-Museum leitet. Die Literaturwissenschaftlerin aus Sizilien wollte nur einen Sommer bleiben und lernte das Engadin aus den gleichen Gründen wie Nietzsche lieben, der schrieb: „“Hier ist gut leben, in dieser starken hellen Luft, hier, wo die Natur auf wunderliche Weise zugleich mild, feierlich und geheimnisvoll ist – im Grunde gefällt mir´s nirgendswo so gut als in Sils-Maria.“ Eine Beschreibung, als Spieglung seiner Seele.
So vieles lässt sich in den über 2000 Büchern nachlesen, so manches in den alten Schriften und Bildern entdecken. Doch das Museum hat auch Überraschungen zu bieten: Hier findet man die original Totenmaske von Nietzsche. Die fast allen bekannte, hatte seine entsetzliche Schwester fälschen lassen, weil sie der Menschheit ein Gesicht zeigen wollte, das besser in ihr heroisches Weltbild passte – nicht der einzige fatale Eingriff von Elisabeth Förster-Nietzsche, die den Nachlass ihres Bruders teilweise grotesk maskierte. Einzigartig für ein Museum: Man kann im mystischen Nietzsche-Haus auch wohnen und sich inspirieren lassen. Auf so teilhabende Weise werden nur wenige Museen zum Leben erweckt. Nietzsche fand im Engadin eine Heimat für seine geschundene Seele, nur mit St. Moritz haderte er anfänglich, weil ihm dort zu viele Touristen aus Basel und Deutschland begegneten.
Rainer Maria Rilke, der ähnlich orphisch dichtete wie Nietzsche und von dessen Werk beeinflusst wurde, lebte eine Zeitlang in Soglio, einem Ort von rauer Poesie. Nur 20 Kilometer westlich von Sils-Maria gelegen, fehlt diesem steinernen Monument bäuerlichen Lebens die Zartheit von Sils. Doch die Aura jedes einzelnen Hauses zeigt voll Würde das alte charaktervolle Gesicht des Engadins. Von einem der ergreifendsten Friedhöfe auf dem Erdenrund hat man einen dramatischen Ausblick auf die schönsten Seiten der alpinen Welt.
Interessant, dass man glaubt, den Toten einen solch fabelhaften Panoramablick gönnen zu müssen. Noch besser, dass Friedhofsbesucher ihn tatsächlich erleben. Die bunten Wiesenblumen werden eins mit den Gräbern, die sogar in einem Brunnen untergebracht wurden. An einer solch in sich ruhenden Stätte würden selbst grasende Kühe ins Bild passen. Luis Trenker drehte in Soglio Anfang der 30er Jahre „Der Rebell“. Immer wieder wird die spektakuläre Bergkulisse von der Filmwelt in Szene gesetzt.
Das Bergdorf Soglio hat nur 200 Einwohner, aber 20.000 Logiergäste im Jahr. Ein sorgloses Gasthaus mit traumhaftem Garten ist der Palazzo Salis. Das pittoreske Haus aus dem 17. Jahrhundert vereint Albergo und Ristorante unter einem Dach. Die 15 Hotelzimmer sowie die Säle und Hallen zeigen Geschichte und wurden mit antiken Möbeln, Kachelöfen, Marmor-Cheminées, Originalbildern, Wandmalereien und Stuckaturen ausgestattet. Im Garten vergnügen sich die Gäste zwischen hohen Buschhecken mit Schweinsbratwurst auf Rosmarinrisotto, Polenta mit Steinpilzen oder Speck, Bergkäse und Ziegenkäse aus Soglio. Cüpli (Champagner) und Herrgöttlie (Bier) finden in Eintracht zusammen, solche Helvetismen vereinen. Zwei Mammutbäume überragen wie Schutzheilige die Idylle – die am Stamm hängenden Spiegel dienen nicht der Überprüfung der eigenen Gesichtszüge, sondern geben einen ungewöhnlichen kunstvollen Blick von unten auf die riesigen labyrinthischen Baumkronen.
Das Hotel Nira Alpina in Silvaplana ist ein Alpentraum. Und der geht so: Naturbursche trifft Model und bringt ein hübsches Kind zur Welt, das beiden gerecht wird. Das von außen wie ein Fort wirkende, längliche und terrassenartig angelegte Gebäudeensemble duckt sich unter den Corvatsch, um den Blick auf den höchsten Berg Engadins freizugeben. Vom Hotelbett aus breitet sich eine Filmleinwand mit beindruckenden Szenen aus, bei denen der Silvaplana-See, das Dörfchen Surley und die Berge von Piz Nair und Corviglia die Hauptrollen spielen. Auf den Nachttisch liegt, wie dürfte es anders sein, der Zarathustra von Nietzsche. Holz, Stein und Granit bestimmen die Grundierung des Hotels, schokoladiges Wildleder, mahagonifarbiger Damast und naturbelassene Steinfliesen schaffen Atmosphäre.
Restaurant und Lounge wurden so gestaltet, dass man durch die großen Panoramafenster so viel wie nur möglich Natur ringsum wahrnehmen kann. Das Nira Alpina sieht sich auch als „Fenster zum Engadin“. Irgendwo glimmt immer ein Feuer, und sei es nur ein virtuelles in dem feierfreudigen Blockhaus vor dem Hotel, weil es der Brandschutz so fordert. Das Nira Alpina ist die moderne und luxuriöse Version einer Schweizer Skihütte, traditionell und doch kitschfrei, zeitgemäß aber behaglich. Außerdem bietet das Hotel die ideale Basis für Skifahrer, Wanderer und Landschaftsgenießer.
Beim Essen setzt die Küche bewusst andere Akzente. Gewiss, es gibt auch sehr gute heimatliche Schinken, Würste und Käse, wie schon das Frühstücksbuffet zeigt. Doch will man in einem Design-Hotel keinesfalls die in Selbstgefälligkeit erstarrte Schweiz verkörpern. Klassiker gehören zwar zum festen Speiseplan, aber asiatisch und US-amerikanisch interpretierte Gerichte geben den Ton an. Der Rücken vom Bergeller Berglamm mit geräucherter Knoblauchjus hat ein weit über dem Konventionellen liegendes Format, die Riesencrevetten mit Tandoori-Gewürzen und anregendem Mango-Basilikum-Chutney machen Lust auf mehr. Peppig und hübsch präsentiert werden die nach Cajun-Art gewürzten Chickenwings. Noch eine Prise spannender wird es mit hausgeräucherten Spareribs in Schwarzbier-Maldonpfeffersauce. Man sollte den Weinen der Schweiz eine Chance geben, nicht nur dem großen Pinot Noir von Gantenbein. Die Grünen Veltliner aus Österreich sind hier indes die beste Wahl. Die Bar neben dem Restaurant bewegt sich auf gleicher Höhe und garniert ihre gutgemachten Drinks ebenfalls mit Alpenblick.
Die weißen Bergzipfel glänzen kristallklar, die Eiswürfel im Drink schmelzen zu Gletscherwasser, das Alpenpanorama wird von flirrenden Silberwellen durchwebt. Ein Cüpli hier, ein Hergöttlie dort. Und Nietzsches Spirit dazu. Man möchte hier einfach nicht mehr weg – alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.
Nira Alpina, Silvaplana, Tel. (0041) 081 838 6969. Zimmerpreise 138 – 308 €. Besonderheit: Privater Zugang zur Corvatsch-Seilbahn. www.niraalpina.com
Nietzsche-Haus, Sils-Maria, Tel. (0041) 081 826 52 24. Führungen, Ausstellungen, Wohnen & Arbeiten, Vorträge, Kolloquium. Zimmerpreise: 53 – 122 €. www.nietzschehaus.ch
Hotel Waldhaus, Sils-Maria, (0041) 081 838 51 00. Zimmerpreise: 280 – 533 €. Nietzsche-Kolloquium „Alle Lust will Ewigkeit“, 26-29. September. www.waldhaus-sils.ch
Hotel & Restaurant Roseg-Gletscher, Pontresina, Tel. (0041) 081 842 64 45. Zimmerpreise: 57 – 110 €. www.roseg-gletscher.ch
Hotel & Restaurant Palazzo Salis, Soglio, Tel. (0041) 081 822 12 08. Zimmerpreise: 80 – 240 €. www.palazzosalis.ch
Alp-Schaukäserei, Pontresina, (Tel. 0041) 081 842 62 73. www.alp-schaukaeserei.ch
Photocredit: Fienhold, Nira Alpina, Waldhaus, Nietzsche-Haus
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