Kann man drei Michelin-Sterne erben? | BISS

Kann man drei Michelin-Sterne erben?

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Michel Bras übergibt

an seinen Sohn Sébastien

 

Kann Salat etwas Besonderes sein? Bei Michel Bras ganz bestimmt. Das Gericht gleicht einem Spaziergang über Wiesen und Felder, taufrisch und duftig. Auf dem geschmacklich und optisch ausgefeilten Teller liegen in einträchtiger Harmonie: Sauerampfer, Sellerieblatt, Spargelspitze, ein Blatt Roter Amarant, schwarzes Olivenöl, Erbsen, auf einer Seite angebratene neue Kartoffeln, echter Baldrian, griechischer Baldrian, Spitzwegerich, Gerste, Kohlrabi, Blutampfer, Kapuzinerkresse, Hundszahn, Rhabarber, Dill, Blauglöckchen, ein weißes Rosenblatt vom Balkon, eine alte duftende Rose aus dem Garten, Ginster, Goldlauch, Kaplilie, Erbsensprossen, Veilchen, Mohn, Koriander, Bärlauch und Endivie. 40 bis 60 Gemüse, Kräuter, Blätter und Blumen kommen bei diesem Potpourrie namens Gargouillou zusammen. Der hochsensible Michel Bras zählt zu den besten und ungewöhnlichsten Köchen der Welt. Drei Sterne im Michelin und 19,5 Punkte im Gault Millau haben ihm einen Platz im Küchenolymp gesichert. Es fällt ihm jedoch schwer loszulassen und sein Lebenswerk abzuschließen. Sohn Sébastien arbeitet schon einige Jahre an seiner Seite und soll nun das Restaurant in Laguiole alleine weiterführen. Es entsteht dabei wahrscheinlich weniger ein Konflikt zwischen Vater und Sohn, als zwischen dem neuen Küchenchef und den alten Gästen. Der Film Entre les Bras, der jetzt in deutschen Kinos anläuft, schildert eindrücklich Abschied und Neuanfang.

 

Interview mit Michel Bras

Sie sind dafür bekannt, sehr anspruchsvoll zu sein. Im Film treten Sie manchmal so auf, als ob Sie hundertprozentig davon überzeugt wären, besser als jeder andere – sogar als Ihr Sohn – zu wissen, was in der Küche getan werden muss.

M.B.: Ich habe nicht den Eindruck, dass ich über die kulinarische Wahrheit verfüge. Ich habe einen Stil, der zumindest besteht – und dessen Stärke darin beruht, ein Leben lang an einem gegebenen Ort entstanden zu sein. Ich versuche Sébastien verständlich zu machen, dass sein kulinarischer Ausdruck die logische Konsequenz aus seinem Lebensstil sein sollte, also so eine Art Ergebnis dessen. Man muss die Kraft des Kochens verstehen, um seine Gäste bedienen zu können und ihnen zu dem Glück zu verhelfen, das sie bei uns suchen. Die Stärke des Restaurants liegt in seiner Seele. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht sehr anspruchsvoll.

Haben Sie sich nie gefragt, ob Ihr Sohn das Erbe, das Sie ihm überlassen, überhaupt schultern kann?

M.B.: Natürlich. Diese Frage habe ich mir stets gestellt und ich tue es immer noch. Aber das ist meine Verantwortung als Vater. Die Herausforderung ist zugegebenermaßen enorm hoch, aber das Geschäft besteht und es hat eine solide Grundlage. Als ich angefangen habe, waren wir zu dritt. Mittlerweile haben wir 65 Mitarbeiter. Und Sie müssen sich in Erinnerung rufen, dass es damals nicht einfach war, Chefkoch zu sein. In den Jahren 1978/1979 war es verdammt anstrengend, andere Gerichte als Würstchen und Aligot oder Kutteln und Eintopf anzubieten. Können Sie sich vorstellen, was es bedeutete „vom rechten Weg abzukommen“ und Makrele mit Johannisbeeren oder Himbeeren zu servieren? Ich habe mein ganzes Leben lang dafür gebraucht, dass die Leute dies akzeptieren.

Ist es deswegen für Sie so schwierig, nicht mehr vor Ort zu sein, auch wenn es notwendig erscheint?

M.B.: Ja, es ist anstrengend und hart. Als ich mein Büro verlassen habe, fühlte das sich so an, als ob jemand gestorben wäre. Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Aber ich habe mich damit arrangiert, weil ich weiß, dass ich an einem Wendepunkt in meinem Leben stehe. Ich sage das nicht gerne, aber ich weiß, dass ich in der Welt der Gastronomie für etwas stehe. Nun kann ich endlich die Früchte der leidvollen Arbeit in der Vergangenheit ernten; es war nicht leicht „vom rechten Weg abzukommen“ und diese Lebensentscheidungen zu treffen. Ich ebne den Weg, ich überlasse meinem Sohn das Fundament, vielleicht sogar meine Gene, meine Art die Dinge zu tun und zu sehen … Nun ist es an ihm, das Restaurant zu übernehmen und seinen persönlichen Ausdruck zu entwickeln. Ich habe jedoch Angst vor der Reaktion einiger weniger Gäste, so nach dem Motto „Oh, ich kannte Ihren Vater sehr gut. Damals als er noch, etc.“. Über diese Dinge habe ich auch mit meinen Freunden Pierre Gagnaire und Michel Troisgros gesprochen, die einen Teil ihrer Jugend im Schatten ihrer Väter, die auch Chef-Koch waren, gestanden haben.

Aber beiden ist es gelungen voranzuschreiten, indem sie ihre Väter symbolisch „erlegt“ haben. Ist das bei Ihrem Sohn auch der Fall?

M.B.: Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Das müssten Sie eigentlich ihn fragen, aber ich denke eigentlich nicht. Wir haben stets versucht, die moderne Welt zu betrachten und nicht an diese veralteten Regeln, diese alten Herangehensweisen zu denken. Es stand nie zur Debatte, dass Sébastien ein Jünger oder ein spiritueller Sohn von mir sein sollte. Unsere Lebensgeschichte ist die zweier Kameraden, die unbekümmert um den ersten Platz rangeln und trotzdem eng miteinander verbunden bleiben. Darin genau liegt unsere große Stärke.

 

Interview mit Sébastien Bras

Warum nennen Sie Ihren Vater eigentlich „Michel“ und nicht „Papa“?

S.B.: Eigentlich nenne ich ihn meistens „Alter“! (Er lacht.) Das ist eine gute Frage, aber ich weiß es nicht genau, das war schon immer so.

Wir wissen, dass Sie und Ihr Vater beide sehr bescheiden sind. Ist das ein Problem, wenn man vor der Kamera steht?

S.B.: Ja, das stimmt, wir sind von Natur aus eher introvertiert. Wir öffnen uns nicht so leicht. Das war für Paul nicht unbedingt einfach, aber wir kennen uns nun schon seit zehn Jahren und sind uns wirklich sehr vertraut. Während der Dreharbeiten ist es manchmal schwierig, aus sich herauszukommen, aber da Paul ein Freund ist, versucht man schließlich seine Befürchtungen zu überwinden und sein Innerstes für ihn zu öffnen. Und irgendwann vergisst man dann auch die Kamera. Ich bin kein Schauspieler, ich bin einfach nur ich selbst.

Wer spielt eigentlich die Hauptrolle in diesem Film? Die Familie? Der Ort? Oder das Kochen?

S.B.: Wahrscheinlich alle drei zusammen. Die Geschichte der Bras’ ist die Geschichte einer Familie, eines Ortes und des Weitergebens von Generation zu Generation. Wir haben unweigerlich eine enge Beziehung zu dem Ort an dem wir leben und zu unseren Vorfahren, und ein Gefühl der Ehrfurcht, wenn wir woanders sind. Das ist wie ein in sich geschlossenes, unkompliziertes Ganzes. Ich bin mit meiner Arbeit verheiratet, weil sie eng mit meinen Kindheitserinnerungen verbunden ist. Ich habe meine Persönlichkeit mit meiner Arbeit entwickelt und bin so aufgewachsen. Ich habe diesen Weg gewählt, das ist alles. Ich hinterfrage ihn nicht wirklich.

Auch wenn das so ist, ist es nicht immer leicht, der Erbe zu sein, vor allem nicht, wenn der Vater Michel Bras ist …

S.B.: Michel ist, wer er ist. Ich werde nie er sein und ich versuche es auch nicht. Ich werde nicht sein Klon sein, weil ich meine eigenen Erfahrungen und Gefühle habe. Und sie werden es mir ermöglichen, meine Kochkunst so weiterzuentwickeln, wie ich es möchte. Ich lasse das ehrlich gesagt gar nicht erst an mich rankommen. Ich werde nicht zu mir selbst sagen: „Oh nein, Michel hat das und das zu der und der Zeit getan und ich muss denselben Weg einschlagen, etc.“. Meine Eltern und das Aubrac haben mir genügend Dinge mit auf den Weg gegeben, um meine eigene Richtung einzuschlagen. Natürlich hat man so seine Zweifel oder manchmal Angst – aber diese Fragen bringen dich voran, du schmiedest Pläne und bist hoffnungsfroh.

In dem Film gibt es eine sehr charmante Szene als Sie Ihren „Alten“ eine Ihrer Kreationen kosten lassen. Sie lächeln ihn direkt an und sagen: „Du darfst jetzt nichts sagen!“

Wenn man ein Gericht kreiert werden Gefühle, Erinnerungen und Begegnungen wachgerufen, die nur einem selbst gehören. Auch wenn Michel und ich eine sehr ähnliche Sicht der Dinge haben, heißt das nicht, dass wir aus drei Produkten dasselbe zubereiten. Kulinarische Kreationen sind etwas sehr Schwieriges und sehr Persönliches. Vielleicht habe ich deshalb diesen Satz zu Michel gesagt.

Der Film von Paul Lacoste zeigt einen der wichtigsten Abschnitte in Ihrem Leben: die Weitergabe des Restaurants vom Vater an den Sohn. Wird es in zehn Jahren einen dritten Dokumentarfilm geben?

S.B.: Mit meinen Kindern? (Er lacht.) Ich weiß nicht … Sie sind erst acht und zehn Jahre alt und ich kann jetzt schon beobachten, wie sie dieselben Dinge erleben, wie ich in ihrem Alter an der Seite meines Vaters: man kommt vom Markt zurück und hat zu Spitzenzeiten alle Hände voll zu tun… Sie wachsen in derselben Umgebung auf wie ich als kleiner Junge, aber ich setzte sie nicht unter Druck. Sie sollen aus ihrem Leben das machen, was sie wollen.

 

Die Interviews wurden von dem Journalisten und Restaurantkritiker Sébastien Demorand geführt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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