Restaurantkritik Carte Blanche: Überraschend anders | BISS

Kategorie | 2022, Aktuelles, September 2022

Restaurantkritik Carte Blanche: Überraschend anders

Carte Blanche - 10

Wo Charles Aznavour den Schweinebauch umarmt

 

Von Ludwig Fienhold

 

Was hat dieses Lokal was andere nicht haben? Die Antwort weiß nicht der Wind, aber wir versuchen es mal. Sicher ist, dass hier das Gesamtpaket aus Atmosphäre, Küche, Weinkarte und Service stimmig erscheint. Das ist ein Ticket zum Erfolg. Das Lokal ist anspruchsvoll, nimmt sich dabei aber nicht zu wichtig. Alles passt zusammen, nichts stört. Es geht lässig, aber nicht nachlässig zu. Man muss aber das Konzept der Carte Blanche, der ungeschriebenen Speisekarte mögen. Das fällt nicht jedem leicht, offenbar aber genug Gästen.

Charakter: Unter der hohen Decke breitet sich eine Wohnzimmeratmosphäre aus, mehr Atelier als Stube. Vintage, Flohmarkt, Gossenschick? Für uns Bohème. Charles Aznavour und Montmartre. Nicht nur für Deutsche ein emotionaler, künstlerischer und intellektueller Sehnsuchtsort. Vielleicht ist dies das Geheimnis von Carte Blanche und seiner Beliebtheit, auch bei Gästen, die eine solche innerliche Vertonung noch nicht gespürt haben.

Das Konzept: Es gibt keine Speisekarte, der Gast wird nur über den Einkauf und dessen Produkte informiert. Die Küche hat, ganz im Sinne des Restaurantnamens, die Blankovollmacht. Das setzt großes Vertrauen voraus, vor allem für Gäste, die zum ersten Mal dabei sind. Vielleicht liegt im Ungewissen für manche sogar der Reiz. Man hat die Wahl zwischen fünf und sieben Gängen ( 82 und 98 €). Wer keine Süßspeisen oder Käse mag oder andere Bedenken hat, sollte dies gleich bei der Reservierung kundtun. Menüzwänge halten wir grundsätzlich für problematisch, wenngleich wir verstehen, dass eine Küche ihr ganzes Spektrum zeigen möchte. Der Einkauf bleibt für sechs Wochen bestehen, was für in dieser Zeit wiederkehrende Gäste nicht optimal erscheint.

Die Küche: Sebastian Ziese und sein Team sind auch deshalb kreativ, weil sie sich etwas getrauen und nicht den sicheren Mainstream suchen. Während sich viele Köche in instagram-tauglicher Pinzettenküche verlieren, wird hier noch gekocht und handwerklich gearbeitet. Vor allem überträgt sich der Spaß, den die Küche hat auch auf die Teller. Saftiges Maishühnchen mit Sesamfarce auf Naturjoghurt mit geflämmten Mais und sehr gut abgeschmeckter Mole aus Bitterschokolade mit leichter Chilischäre bringen eine mexikanisch eingefärbte Küche auf den Tisch, die Geschmack auch Lebensfreude vermittelt (wobei dazu auch nur Maishühnchen und Mole-Sauce gereicht hätte). Das zarte und geflämmte Duroc-Schweinebauch-Carpaccio wird von so viel Pflanzlichem und Fruchtigem begleitet, dass es fast schon vegetarisch wirkt, aber Kürbis-Pfannkuchen, Kürbis, Harissa, Mini Romanasalat, Dashi, Mirabelle und Edamame bringen viel Frische und Harmonie ein. Gebackene und mit Frischkäse gefüllte Zuchiniblüte mit Chili-Hollandaise und Shiso-Pesto schmeckt noch weit spannender als es klingt, wobei vor allem das Pesto eine griffige Pointe setzt.

Gewagt und doch gekonnt: Meeräsche auf feiner Bananencreme in Petersilienöl sowie Zwiebel-Tapioka-Crunch und in Cognac eingelegten Pfefferkörnern on top erweist sich als vielfältige und doch nicht überstrapazierte Kombination. Der noch leicht bissfeste Calamar wiederum wird mit einem würzigen Paellafond aufgegossen und von Meerestrauben (Algen), Aioli und Sepiagelee zärtlich umgarnt und nicht erdrückt. Sehr schöne Patisserie: Die hausgemachten Pralinen mit Kokos und Salzkaramell sind köstlich. Die Küche hat sich gut weiterentwickelt, ist originell und kreativ. Essen gehen muss Spaß machen. Das ist nicht überall der Fall, auch dort nicht, wo allein nur die Küche spitze ist. Im Carte Blanche kann man Spaß haben, weil alles unverschämt locker und doch anspruchsvoll wirkt.

Service: Genau das trifft auch auf Zola Zingler und ihr junges Team zu, die allgegenwärtig sind, ohne zu observieren. Der Service funktioniert mit Sicherheit hier auch besser, weil männliches und weibliches Personal Hand in Hand geht. Ein rein männlicher Service (umgekehrt ebenso) hat noch selten einem Lokal gutgetan – auch nicht der Atmosphäre und dem Dekor.

Weinkarte: Wer als Aperitiv Cremant aus der Pfalz, hessischen Apfel-Cidre, einen guten spanischen Cava von Recaredo und besten Bollinger Champagner offeriert, hat schon mal gut nachgedacht. Das trifft auch auf die alkoholfreien Getränke und die Teeauswahl zu. Die Weinkarte ist sehr gut und ambitioniert. Der günstigste Einstieg bei einer Flasche liegt bei 34 €, sonst muss man eher 50 € anlegen. Es werden offensichtlich Weine bevorzugt, die zum Essen passen und solche vernachlässigt, die zum Essen passen und dabei aber schlanker und frischer ausfallen. In diesem Bereich gäbe es viele Weine, die man sogar unter 30 € anbieten könnte. Und von denen ein Gast, dann auch mehr trinken würde, was dem Umsatz nicht schadet. Fabelhaft und nicht oft zu finden: Rosé Champagner Shaman vom Champagner-Winzer par excellence Benoit Marguet (für 80 € fair kalkuliert). Alltagstauglich und doch auf gutem Niveau: Der Sancere Rosé von der Domaine Vacheron und preislich etwas anspruchsvoller der Sancerre Le Paradis von Vacheron.

Carte Blanche, Frankfurt, Egenolfstr. 39/Ecke Friedberger Landstraße. Tel. 069 272 45 883. Mittwoch – Sonntag 18.30 – 24 Uhr, Montag und Dienstag geschlossen. www.carteblanche-ffm.de

Photocredit: Barbara Fienhold

 

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