Hirschkäfer sind keine Delikatesse mehr | BISS

Kategorie | Aktuelles, Mai 2014

Hirschkäfer sind keine Delikatesse mehr

Hirschkäfer

Im Großstadtdschungel

 

 

Was macht ein Hirschkäfer in der Stadt? Vor allem Arbeit. Eigentlich hatte der Hirschkäfer am Frankfurter Römerberg vor dem Eingang Hausnummer 8 nichts zu suchen, denn sein Biotop sind Laubwälder und nicht Betonpfeiler. Deshalb blickte er sich auch traurig um, als er weder Blätter noch morsche Baumstümpfe ausfindig machen konnte. Stattdessen nur schreiendfarbige Wimpel und Touristennippes vom Andenkenlädchen, selbst das Goetheporträt in der benachbarten Galerie brachte ihm keine Inspiration. Jedenfalls machte der Hirschkäfer einen hilflosen Eindruck und bewegte sich nur sehr vorsichtig zentimeterweise in alle Richtungen. Ohne fremde Hilfe, so war schnell klar, würde der Hirschkäfer seinem Schicksal ausgesetzt sein. Wen aber anrufen? Naheliegend war im Grunde das Amt für Umweltschutz, Landwirtschaft und Forsten. Die Dame an der Zentrale wunderte sich nur und meinte abweisend: „ Wir sind doch nicht dafür da, um Käfer einzusammeln.“ Sie wusste offenbar nicht, dass ein Hirschkäfer kein gewöhnliches Krabbeltier oder gar Ungeziefer ist. Also musste ihr klar gemacht werden, dass der Hirschkäfer ein eher seltenes Exemplar ist, zu den gefährdeten Käfern gehört, unter Naturschutz steht, 2012 schließlich zum „Insekt des Jahres“ gekürt und sogar von der Deutschen Bundespost auf einer Briefmarke verewigt wurde. Zudem wird im Internet von Naturschützern darauf hingewiesen, dass man auf die Standorte von Hirschkäfern aufmerksam machen sollte, vor allem, wenn sie in ungewohnter Umgebung gesichtet werden.

Schließlich zog die Mitarbeiterin ihren Stachel ein und gab an einen Mitarbeiter weiter, der „damit vielleicht etwas anfangen kann“. Dieser zeigte sich zunächst auch verständig, verwies aber gleich auf die Feuerwehr und deren Abteilung „Tierrettung“. Wenn ein Bürger aber bei der Feuerwehr anruft und um die Rettung eines Hirschkäfers bittet, wird diese wohl eher glauben, dass ihm alle Sicherungen durchgebrannt sind, was mit keiner Löschaktion behoben werden kann. Katzen holt die Feuerwehr schon von den Bäumen, auch Hunde werden aus Kanalschächten befreit, doch Hirschkäfer müssen sich diskriminiert sehen. Und außerdem: Womöglich muss der Anrufer auch noch den Einsatz der Feuerwehr bezahlen, denn das „Umsetzen von Insekten“ ist gebührenpflichtig und schlägt mit 143,16 € zu Buche. Die Arbeitsstunde eines Feuerwehrmanns kostet je nach Dienstgrad zwischen 38,86 und 65,45 €. Wenngleich er gefährlich über einer großen Pfütze saß, hätten zum Glück keine Taucher zur Rettung des Hirschkäfers gerufen werden müssen, deren Einsatz noch teurer ist. Vielleicht wäre die Hirschkäfer-Aktion aber auch als Fehlalarm eingestuft worden, was mit über  812,95 € in Rechnung gestellt werden würde.

HirschkäferDer Mitarbeiter vom Amt für Umweltschutz, Landwirtschaft und Forsten versuchte beruhigend auf den Anrufer einzugehen. So, wie man das bei Menschen macht, von denen eine gewisse Gefahr ausgeht, sollte man sie nicht für ernst nehmen oder gar offenkundig als verrückt erklären. Also versprach er, sich höchst selbst mit der Feuerwehr in Verbindung zu setzen und ließ den Anrufer in dem Glauben, dass nun endlich dem Hirschkäfer geholfen werden könne. Trotz genauer Beschreibung des Hirschkäfer-Standorts und der Hinterlegung der Telefonnummern für Rückfragen geschah die darauffolgenden Stunden nichts. Bei Fledermäusen, Eidechsen und Kröten wäre  das vielleicht anders verlaufen, aber Hirschkäfer haben keine Lobby. Unser stattliches männliches Exemplar war knapp acht Zentimeter lang. Im Grunde können Hirschkäfer ein wenig fliegen, vor allem zwischen Ende Mai und Juli, doch dieser schwere Brocken wollte oder konnte nicht abheben und schien sich nur darüber zu wundern, wie er in diese missliebige Situation geraten war. Ein Fensterputzer aus Portugal beobachtete interessiert das Geschehen und meinte, dass man in seiner Heimat aus den „Geweihen“ der männlichen Hirschkäfer Amulette machen würde. Zudem hätten früher die Larven in manchen Ländern als Delikatesse gegolten. Spätestens jetzt musste schnell gehandelt werden, blieb kaum etwas anderes übrig, als die Sache beziehungsweise den Hirschkäfer selbst in die Hand zu nehmen. Vorsichtig wurde das Tier von der Wand in ein luftiges Kästchen verfrachtet und zu einem besonders schönen Platz für Kleinlebewesen und Frankfurter gebracht: Dem Nizza-Garten, der reich an saftigen Blättern und leicht morschen Baumstämmen ist. Durch diese „Auswilderung“ ist der Garten nun um eine Gattung reicher. Möge der Hirschkäfer unter Palmen, Zitronenbäumen und Zedern glücklich werden und vielleicht doch noch Kraft finden für einen Flug zu einem Weibchen, das irgendwo auf ihn wartet.

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“.

Franz Kafka „Die Verwandlung“

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