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Ein Himmel voller Sterne

Abschied von Küchenstar Santi Santamaria

Von Ludwig Fienhold

Santi Santamaria, einer der ganz großen Köche der Welt, ist im Alter von 53 Jahren gestorben. Er erlitt einen Herzinfarkt in dem vor acht Monaten eröffneten und von seiner Tochter Regina geführten Restaurant Santi im spektakulären Hotel-Casino Marina Bay Sands in Singapur. Seine naturnahe moderne katalanische Küche war die erste in Katalonien, die dem französischen Michelin drei Sterne wert erschien. Der Autodidakt, der auf dem Weg war Ingenieur zu werden, entschied sich erst im Alter von 24 Jahren für den Kochberuf. Sein Restaurant Can Fabes in der Nähe von Girona hält seit 1994 drei Sterne im Michelin. Unter dem Patronat von Santi Santamaria stehen insgesamt sieben Restaurants in Sant Celoni, Barcelona, Madrid, Toledo, Singapur und Dubai, in Spanien hält er damit insgesamt sieben Sterne. Der eher der Tradition verpflichtete Produktfanatiker Santi Santamaria war der kulinarische Gegenspieler des spanischen First Class Alchemisten Ferran Adrià, mit dem er sich verbale Schlachten lieferte. Das Tragische am Tod von Santi Santamaria: Er starb umgeben von Menschen, die in den letzten drei Jahren kübelweise Dreck über ihn ausgegossen hatten. Als Versöhnungsversuch hatte er viele spanische Autoren nach Singapur eingeladen, „um ihnen zu zeigen, wie ein gutes Restaurant funktioniert“.  Mancher Nachruf in Spanien liest sich wie eine letzte Abrechnung. Santi Santamarias Nachfolger ist sein Schüler Xavier Pellicer.

Drei-Sterne-Restaurant Can Fabes in Sant Celoni

Unter den spanischen Köchen war der gemütvolle und doch wortgewaltige Santi der größte Sympathieträger, seine offene klare Art hatte nie die Manieriertheit anderer Starköche. Er sah sich als Erneuerer der spanisch-katalanischen Küche, ohne dabei aber den klassischen Nährboden zu verlassen. Auf der teilweise aberwitzigen „Madrid Fusion Conference“ brüskierte er viele Kollegen: „Wir sind eine Bande von Schwindlern, die den Snobs die Zeit vertreibt. Das einzige, was für uns von Bedeutung sein sollte, ist das Produkt, das aus der Erde wächst, durch den Ofen in den Mund wandert.“ Dem ganzen medialen Interesse stand er sehr skeptisch gegenüber: „Es ist ein großes Problem, denn `la grande cuisine professional´ benötigt Ruhe. Heutzutage umgeben Fernsehen, Zeitungen und Magazine das Kochen und sorgen für zu viel Trubel. Am Ende ist das eigentlich nur noch Show-Business.“ Santi Santamaria kritisierte Kollegen, die zu viel Chemie ins Essen brächten, vor allem Ferran Adrià.  Er wurde deshalb stark attackiert und sprach selbst von Mobbing. Der Gastronomie-Journalist Jörg Zipprick meint, dass man Santi Santamaria mundtot machen wollte. „Er wurde vom eigenen Berufsstand regelrecht exekutiert.“ Am Freitag, 18. Februar, wurde Santi Santamaria in seinem Heimatort Sant Celoni unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit feierlich verabschiedet.

Der erst letztes Jahr eröffnete Hotelkomplex Marina Bay Sands in Singapur, in dem Santi Santamaria in seinem Restaurant jetzt einen Herzinfarkt erlitt.

Wir haben Santi Santamaria erst kürzlich in Dubai ein letztes Ma(h)l erlebt, wo er mit dem Ossiano ein sehr spannendes Restaurant im Hotel Atlantis betrieb. In diesem Dinner-Aquarium spielt eigentlich die Optik die Hauptrolle – wenn der Hai fast schon ins Weinglas am Tisch zu schwimmen scheint, schlagen leicht Wellen der Begeisterung. Doch das Restaurant zeigt auch Qualität. Im Hotel Atlantis sind zudem andere Starköche zu Hause, Locatelli lässt dort aber ebenfalls nicht nur unter seinem Namen arbeiten, sondern überprüft regelmäßig die Qualität seiner Mannschaft – die auch entsprechend erstklassige Arbeit leistet. Auch Santi Santamaria war mehrmals im Jahr im Hotel, um sein Restaurant dort zu betreuen und persönlich am Herd zu stehen. Als wir ihn beim letzten Ma(h)l in Dubai trafen, erschien er entspannt und lebenslustig. Dieser in sich ruhende Teddybär wirkte keineswegs erschöpft. Santi war im Grunde kein Jet-Setter, wurde aber letztlich durch seine weltweite Arbeit dazu. Der Katalane stammte aus einem 200 Jahre alten Familienbetrieb in der spanischen Provinz und wurde schnell in die Welt katapultiert – sieben Restaurants sind nicht nur eine Herausforderung, sie machen vielleicht den Horizont größer, aber auch das Herz schwächer.

Restaurant Ossiano im Hotel Atlantis in Dubai

Das Ossiano ist das gastronomische Aushängeschild des Hotels Atlantis – ein arabisches Neuschwanstein. Die Menüpreise liegen zwischen 160 und 200 Euro. Zwischen den bestellten Gängen werden auch noch kleine Gerichte zum Nulltarif serviert. Ein erstklassiger Appetithappen ist das Sashimi von der Gelbschwanzmakrele mit Pesto. Insgesamt neigt die Küche eher zu kräftiger Zubereitung und großen Portionen. Der Seeteufel war sehr festfleischig und delikat und schwamm in einem ausgesprochen intensiven Fond. Santi Santamaria war ein Meister der Fonds. Bei diesem gehaltvollen katalanischen Fischtopf namens Suquet wird auch nicht mit Knoblauch gespart. Dieses Signature-Gericht schmeckte in Santis Hauptrestaurant Can Fabes nicht anders als in Dubai. Leichter zeigten sich Octopus mit geräucherter Paprika sowie Königskrabbe mit Couscous, Yoghurt und Curry. Der Wolfsbarsch (mit Auberginen, Artischocken und Kartoffeln) präsentierte sich saftig-zart und beinahe noch glasig in Vollendung. Santi Santamaria war an diesem Abend in Dubai und stand selbst am Herd. Er schritt nicht beifallheischend die Tische ab, sondern gönnte sich nach getaner Arbeit einen letzten Schluck an der Restaurantbar.




Letzte Worte eines
Molekular-Kritikers

Besuch im Drei-Sterne-Restaurant Can Fabes von Santi Santamaria

Der Bauernsohn Santi Santamaria aus Sant Celoni begann vor über 25 Jahren als Autodidakt in der eigenen Kneipe. „Hier im Can Fabes koche ich, woran ich glaube.“ Sein Glaube galt dem Produkt, dem unverfälschten Geschmack der guten Zutaten. Das Restaurant Can Fabes erscheint wie ein kleines Bauernhaus in einer Provinzstadt. Innen lockt eine rustikale Stube ebenso wie modernes Design mit offener Küche. Fünf kompromisslos designte Zimmer beherbergen die Gäste, die einige der 325 Referenzen von der Weinkarte kosten möchten. Santi mochte eigentlich alles: Die winzigen Angulas, die Glasaale. Die kleinen Tintenfische von der Küste des Mittelmeeres. Die gelatineartigen Innereien vom Kabeljau. Das Bresse-Geflügel von Miéral. Seinem Personal gönnte er mittags besseres Essen als andere Restaurants ihren Gästen. Für seine Gäste suchte er schon am frühen morgen kiloschwere „Denti“-Fische mit blitzenden Augen direkt am Hafen aus. „Die kommen nie aufs Eis“, meinte der joviale Katalane mit der buccholischen Figur und dem immerwährenden Drei-Tage Bart. „Das würde sie verbrennen. Und alles wird direkt am Abend serviert.“ Eines aber mag Santi gar nicht: „Astronautenfutter. Wenn man sich anschaut, was die Köche heute auftischen, kann einem der Appetit vergehen. Pastillen und Tabletten. Viele junge Köche wissen nicht mehr, wie man ordentlichen Fonds macht.“ Santi Santamaria wußte, wovon er redete, denn  sein Fond wäre anderswo eine Suppe für Feinschmecker gewesen: Ein ganzes Brathuhn schwamm darin, und zwei Kilo schieres Kalbfleisch, dazu eine Überdosis gesundes Grünes.

Santi Santamaria (rechts) und sein Nachfolger Xavier Pellicer

Kein Zweifel, Santi war ein Produkt-Fetischist. Einer, der noch wusste, dass gute Küche bei guten Zutaten beginnt. Ein Koch von der Liste der aussterbenden Arten: Pacaud in Paris gehört dazu oder Roellinger in Cancale. Doch der Mann aus Sant Celoni nördlich von Barcelona, dessen Nachname stark nach deutschem Schlager klingt, geht noch einen Schritt weiter: Fast scheint es, als hätte er damals sein „Raco de Can Fabes“ rund um die guten Zutaten errichtet. Rechts stehen drei gläserne Kühlschränke: Im ersten warten zarte Lämmer, saftige Rinderkoteletts, Geflügel und Foie Gras, im zweiten knackige Gemüse, im dritten das Obst. Das Restaurant hatte Aura und Geschichte. „Mein Vater wurde hier geboren, ebenso wie mein Großvater und ich“ berichtete Santi. „Wir waren eine Bauernfamilie. Mein Vater erkrankte schwer, meine Mutter arbeitete als Näherin in einer Fabrik. Mit 15 musste ich dazu verdienen. Wir hatten nicht viel.“ Wenn die Mutter in der Fabrik war, kochte der Vater „Und seine Freunde liebten auch das Kochen. Ich dachte immer, alle Männer kochten.“ Als er 23 war, eröffnete er mit seiner Frau eine kleine Kneipe: „Es war die Zeit nach der Franco-Ära. Neu gewonnene Freiheit! Ich wollte mein Hobby zum Beruf machen, Freunde empfangen, einen Ort kreieren, wo verkannte Poeten Dichterlesungen halten um danach illegale Substanzen zu rauchen.“ Wie jedes Lokal das allein für Freunde bestimmt war, endete Santis Abenteuer nach einem Jahr in einer Beinahe-Katastrophe. „Wir waren ein Alltagsrestaurant, servierten für 150 Peseten, nach heutiger Währung etwa zwei Euro. Wenn unsere Gäste feierten, gingen sie anderswo hin um dort viel Geld zu lassen. Natürlich wollten wir auch ein Restaurant zum Feiern werden.“ Auch das ging Anfangs mangels Kochkenntnissen gründlich daneben. „Zum Glück arbeitete nicht weit von hier ein französischer Koch namens Philippe Serre. Der war mal bei Nouvelle-Cuisine-Erfinder Michel Guérard gewesen und brachte mir die Grundlagen bei.“ Abgesehen von diesem Schnellkurs war Santamaria Autodidakt. „Die ganze spanische Küchenrevolution, von der man so viel liest, ist von Autodidakten losgetreten worden“ erklärte er „Und ich hatte den Vorteil, dass ich schon als Kind den guten Geschmack unserer katalanischen Zutaten auf der Zunge hatte. Ich möchte  feine Gerichte mit rustikaler Spitze; dem althergebrachten Geschmack ein modernes Image verpassen. “Das Zwiebelküchlein auf Blätterteig mit einer supersaftigen, leicht geräucherten Makrele, ist so ein Gericht: Das Raucharoma liefert die „bäuerliche Komponente“, die perfekte Garung und der hauchzarte Teig liefern die Verbindung zur Haute-Cuisine.

Restaurant Can Fabes

Angulas, die traditionellen Glasaale, servierte Santi Santamaria mit Knoblauch, Petersilie und chinesischen Fadennudeln für die Textur. Und die Gemüse! Wir genossen bei Santi Santamaria die besten Erbsen unseres Lebens, angerichtet mit Erbsblüten auf festem Erbspüree, sozusagen Erbse hoch Drei. „Die kommen vom Bauern nebenan. Das klingt jetzt banal, aber hier gibt es eine winzige Gegend, in der die Erbsen besser als anderswo gedeihen.“ Der grüne Spargel ergänzt wunderbar den Kaviar mit Petoncles. Santi war ein Meister der Gemüse und in dieser Disziplin besser als jeder Chef, der mit seinem eigenen Garten angibt. Riesiger Kaisergranat mit Gnocchi, Kabeljau auf seinen Innereien mit den letzten schwarzen Trüffeln aus Spanien, Foie Gras in der Salzkruste, das alles las sich banal, weil Santi Santamaria keine Reime um seine Gerichte drechselte. Natürlich meisterte Santamaria die Garzeiten perfekt, natürlich verstand er sich aufs Würzen, selbstverständlich war er ein „Verpackungskünstler“, egal ob er Lamm in Ton oder Foie Gras in Salz verpackte. Aber letztendlich ging es immer wieder ums Produkt und seine Qualität. Das erklärt, warum er den Feinschmecker-Lesern drei Gänge mit Fleisch und Geflügel serviert: „Weil den meisten Küchen zum Thema Fleisch nichts einfällt. Und ich hier den Wert der guten Zutaten demonstrieren kann.“ Hier, die Foie Gras in der Salzkruste „Das ist nicht einfach Salz, da ist Thymian und Knoblauch drin. Wenn sie das Rezept mit einer schlechten Leber versuchen, kann es sein, das sie einfach wegfließt.“ Die Raffinesse des Rezeptes liegt im Detail: So wird die Leber auf einem Grill angebraten, der mit indonesischer Bio-Kohle, gepresst aus Kokosnuss-Haut befeuert wird. „Wer Kochen verstehen will, muss die unterschiedlichen Garmethoden meistern“ erklärte Santi mit ruhiger Geste „ Wir haben Elektrizität, Gas und Feuer zur Verfügung. Einen Dampfofen, einen Mischofen, dazu Grillspieß, Plancha und Grill. Der Geschmack einer Pfanne ist etwas anderes als der Geschmack eines Holzfeuers. Wenn man das verstanden hat, bringen Technik und Methodologie nicht weiter.“

Mit seiner „Zurück zu den Wurzeln“ Philosophie hatte es Santi Santamaria weit gebracht. Zwei Kinder hat er fast nebenbei groß gezogen: Sein Sohn ist Pferdezüchter, seine Tochter studiert Wirtschaft. Einen eigenen Weinberg besaß er auch „Zwei Hektar zum Experimentieren.“ In der Vanguardia schrieb er wöchentliche Glossen über Gastronomie, zudem hatte er eine Horde Bücher über seine kulinarischen Reisen verfasst. Ihn bedrückte die Entwicklung der modernen Küche. „Die Gegend nördlich von Sant Celoni gehört zu den Hauptstädten der Chemieindustrie: Geschmacksverstärker, künstliche Aromen und jetzt auch noch Nahrungsmittelparfums.“  Das stank für Santi Santamaria zum Himmel.

Jörg Zipprick




Flüssige Meisterwerke

Weinraritäten mit Überraschungen

Schon oft habe ich mich kolossal darüber geärgert, wenn auf Raritätenproben die Weine Flight für Flight durchgejagt werden, als gäbe es kein Morgen. Da stehen dann vier, fünf Gläser nebeneinander, die im Eiltempo erfasst, verkostet und bewertet werden müssen. Anfangs kommt der geschulte Gaumen noch mit der Melange aus Aromen des Weines, der Speisen sowie der oftmals durch den Raum wabernden Damen- und Herrendüfte klar. Mit jeder weiteren Runde steigt der Alkoholpegel, während parallel dazu die Aufmerksamkeit der Teilnehmer abnimmt. Gegen Ende solcher Abende werden große Weine einfach nur noch geschluckt, als würde am nächsten Tag das Mindesthaltbarkeitsdatum ablaufen. Häufig hätte jeder einzelne Wein einen Abend für sich verdient gehabt.

Kürzlich haben wir bei einer Raritätenprobe von Grand Cru Select in Rüdesheim einen entschleunigten Weg gewählt. Als Aperitif gab es einen 1982er Billecart Salmon Grande Cuvée. Dieser 1992 degorgierte Champagner stand goldgelb mit sehr feiner Perlage im Glas. Anfangs noch verhalten im Bouquet, blühte er ein paar Minuten später auf – feine Röstaromen, Nusstöne und am Gaumen elegante Weinigkeit. Ein sehr guter Tropfen auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Fortan folgten Rotweine, zuerst 1990er Cos d’Estournel und 1990er Montrose. Leider hatte der Cos d’Estournel flüchtige Säure, am Gaumen wirkte er, als hätte er einen leichten Essigstich, da half auch die über Stunden währende Beobachtung nichts, die Flasche war nicht perfekt, man konnte nicht ansatzweise erkennen, dass es sich um einen berühmten Wein aus großem Jahrgang handelt. Es blieb zum Glück die einzige Enttäuschung des Abends. Der 1990er Montrose ist ein monumentaler Wein, der anfangs kurz in der Karaffe betörend duftete, dann im Glas aber umgehend in einen Dornröschenschlaf fiel. In den kommenden Stunden veränderte sich der Montrose und gegen Mitternacht hatte er die Fülle, Kraft und Ausstrahlung, auf die man gehofft hatte. Geduld ist der Schlüssel zum Glück, auch wenn der Wein nicht nach jedermanns Geschmack war, so blieb seine Größe unbestritten. Als nächstes Set kamen 1959er Margaux und 1959er Latour auf den Tisch. Beides keine perfekten Füllhöhen, der Füllstand Upper-Top-Shoulder war altersgemäß aber gut. Die Korken waren völlig durchweicht, keine Chance, sie an einem Stück aus der Flasche zu bekommen. Dennoch waren beide Weine fehlerfrei, der Margaux war sofort präsent: Sehr feines Bouquet, farblich deutlich reif, am Gaumen sehr filigran, kein Kraftprotz, wunderbare Eleganz, allerdings mit einem Hauch von Zerbrechlichkeit, die sich durch eine Spur Oxidation (Heu/Luftton) bemerkbar machte. In diesem Zustand hat der Wein sicherlich seinen Höhepunkt überschritten, auch wenn er im Glas den ganzen Abend über lebendig blieb und keineswegs abbaute. Der 1959er Latour hingegen ist ohne jeden Zweifel ein Jahrhundertwein. Völlig intakte, satte Farbe und ein Duft, der mit jeder Nuance auf einen grandiosen Bordeaux hindeutete. Blind hätte ich ihn wesentlich jünger eingeschätzt, er erinnerte in seiner Intensität eher an den Jahrgang 1982. Was für eine kleinkarierte, groteske Vorstellung, diesen 1959er in ein Punkteschema zu pressen. Haben Sie schon mal gehört, dass jemand einem Picasso oder Monet 98 Punkte gegeben hätte?

Der 1959er Latour war jedenfalls der Star des Abends, seine Komplexität, Fruchtfülle, Eleganz und der Nachhall waren nahezu unglaublich. Es ist ein kostbares Geschenk, so einem Wein begegnen zu dürfen und lange bevor ich in die Gehaltsklasse käme, mir diamantbesetzte Eierbecher leisten zu können, würde ich die vierstellige Summe in diesen Wein stecken. Wein Nummer fünf und sechs würden es schwer haben dachte ich: 1964 Léoville Las Cases und 1964 Haut Brion. Mein Geburtsjahrgang, den ich immer bedächtig verkoste. 1964 Léoville Las Cases ist mir zum dritten Mal begegnet, wobei er nie enttäuschte. Auch diese Flasche hatte alles, was man sich von einem bald 47 Jahren Bordeaux aus mittlerem Jahr erhoffen darf. Gesunde, lediglich etwas hellere Farbe mit braunem Wasserrand. Feinwürziges Bouquet, etwas Unterholz, am Gaumen reif, mit der immer noch feinen Süße guter Bordeaux-Weine. Der Wein bleibt ein Geheimtipp zum fairen Preis. Der 1964er Haut Brion war allerdings eine Klasse besser. Ein großer Klassiker kam zum Vorschein, sehr typisches Haut Brion-Bouquet, „steinig“, Jod, sehr geradlinig. Am Gaumen entwickelte sich anfangs ein leichter Muffton, der an Korkgeschmack erinnerte, den Wein aber weder dominierte oder gar negativ beeinträchtigte. Er gehörte zum Haut Brion, was für nicht so geschulte Zungen ungewohnt ist. Später kam eine angenehme Süße hinzu, der Wein blühte immer mehr auf und blieb bis zum Schluss in Bestform. Letzte Rotweine des Abends waren 1982 Léoville Las Cases und 1982 Haut Brion. Hier zeigte sich der Léoville Las Cases von seiner besten Seite, ein vom ersten Hineinriechen zum zur letzten Minute verführerisches Kraftpaket mit Reserven für mindestens weitere 20 Jahre. Tiefe Farbe, beeindruckendes Bouquet, eher wie ein Latour. Intensive, geballte Frucht, Eleganz, die volle Süße des Jahrhundertjahrgangs 1982. Der 1982er Haut Brion war eine Re-importflasche aus den USA, der Korken leider schon vollständig vollgesogen. Hier hatten wir schon bessere Flaschen getrunken. Er reicht auch in besserem Zustand kaum an seinen Nachbarn La Mission Haut Brion von 1982 heran, überzeugt aber dennoch mit einer Klasse und Eleganz, die andere Weingüter nie erreichen.

Insgesamt ein denkwürdiger Abend, der zeigte, worauf es bei einer gelungenen Weinprobe ankommt: Jedem Wein genügend Zeit widmen, niemals zu viele Weine probieren. Keinen Wein voreingenommen verkosten oder gar parallel nachlesen, was andere Genießer, die auch nur Menschen mit ihrem eigenen, individuellen Geschmack sind, darüber geschrieben haben.

Hans-Jürgen Teßnow