Der Tag, an dem die Politik verschwand
Comeback von Joschka Fischer als Gastrokritiker
Ich erinnere mich noch gut an das Jahr 2021, so als wenn es erst gestern gewesen wäre. Die politische Landschaft war ausgetrocknet. Längst hatten sich die einst Mächtigen in den Ruhestand verabschiedet oder die Fronten gewechselt, selbst jene, von denen auch im Alter noch etwas zu erwarten gewesen wäre. Gerhard Schröder hatte sich sogar aus den Geschäften in Russland zurückgezogen und tollte tagaus tagein mit seinen Zuchtferkeln Schnitzel und Stimmvieh durch die Lüneburger Heide. Sigmar Gabriel, der nach seinem Ausscheiden aus dem politischen Leben für kurze Zeit das Großunternehmen Mercedes/Haribo leitete und an der Produktion von benzinfreien Gummiautos scheiterte, betrieb eine Dönerbude in seiner Heimatstadt Goslar, um zumindest noch kulinarisch für die deutsch-türkische Versöhnung einzutreten. Auch andere waren älter und satter geworden. Gregor Gysi, dessen politisches Feuer schneller ausgebrannt war als viele dachten, lebte als Tabakplantagenbesitzer auf Kuba. Ausgerechnet der brettsteife Thomas de Maizière fand schließlich seine Berufung als Tanzlehrer für Senioren in der Rhön. Und FDP-Chef Christian Lindner übersiedelte nach Jamaika, um in Kingston das Bob- Marley-Museum zu leiten.
Angelika Merkel hatte von der Politik ebenfalls die Nase voll und betrieb einen Hundefrisiersalon in der Uckermark. Joschka Fischer kehrte nach der Politik auch dem Redenschreiben den Rücken und verdiente sich seine Lachsbrötchen als Restaurantkritiker für ein Frankfurter Journal, das bekanntlich jeden nimmt, der eine Gabel halten kann. Der bemerkenswerteste Abschied gelang Horst Seehofer, der sogar seine bayerische Heimat verlies, um in Las Vegas als Handpuppe von David Copperfield zu arbeiten.
So kam es denn, dass bei den Bundestagswahlen im Jahre 2021 die Bürger immer blasser wurden, weil sie sich nur noch von farblosen Gesichtern umgeben sahen. Als bei Sonnenschein die Wahllokale öffneten, waren die meisten Menschen noch in ihren Betten. Auch später zogen sie es vor, ins Grüne zu fahren, durch die Straßen zu flanieren oder in den Cafés zu sitzen. Noch am selben Abend stand fest, dass die Wahlbeteiligung bei nicht einmal fünf Prozent lag und ein Großteil der Stimmen ungültig war. Die Politik war ratlos, was die Menschen im Land aber nicht weiter als Neuigkeit bewerteten. Nach wochenlangem Gezeter, bei dem die Parteien um jede Stimme stritten und zeitweise sogar daran dachten, das Wahlrecht auf dreizehn Jahre zu senken, wurden schließlich Neuwahlen ausgerufen. Es mag keine Überraschung sein, aber auch die brachten kein anderes Ergebnis. Es gab noch mehrere Wahlen, so lange, bis die Beteiligung nahezu die Nullgrenze erreicht hatte. Weder durch Appelle noch Versprechungen war das Volk in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Die Zeit verging, doch nichts änderte sich. Es gab keine anderen Krankheiten als zuvor, niemand lebte länger oder kürzer. Die Menschen aßen und tranken, manchen ging es gut und manchen ging es schlecht. Es wurde gelacht und geweint – nur nicht mehr über die Politik. Die einstigen Volksvertreter gingen angeln, schrieben Bücher oder besuchten Freunde in der Ferne. Und das Volk blickte wie immer voll der Hoffnung in eine ungewisse Zukunft. Ja, so war das im Jahre 2021. Ich erinnere mich noch gut daran, als wäre es erst gestern gewesen.
Ludwig Fienhold