Michelin demaskiert?
Der französische Restaurantführer hat Probleme
In Frankreich gerät der Michelin unter Druck. Neben schwindenden Auflagenzahlen steht nun die Seriosität des Restaurantführers im Blickfeld. Laut französischen Pressestimmen ist die kritisch distanzierte Balance von Michelin und Köchen in Gefahr, weil es verstärkt geschäftliche Bindungen zwischen beiden gäbe. Der ehemalige Michelin-Direktor Jean-Luc Naret, der acht Jahre die Geschicke des Guide Rouge bestimmte, soll dabei eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Naret war bis August 2010 Direktor des Michelin in Frankreich.
BISS-Mitarbeiter Jörg Zipprick berichtete zusammen mit Co-Autor François-Régis Gaudry im L’Express, einem der wichtigsten Wochenmagazine Frankreichs, über den Auflagenschwund des Guides, das Dossier Loiseau, die kulinarische Beratungsagentur der Lebensgefährtin von Jean-Luc Naret sowie über nicht gerade „anonyme“ Inspektoren und die Tatsache, dass der Michelin den Platz auf seiner Website von Gastronomen bezahlen lässt. Hinter vorgehaltener Hand sprechen einige Spitzenköche von der „Michelin-Steuer“ oder der „Michelin-Zwangsabgabe“. Mit dem gleichen Thema befasst sich ein Artikel von Laurent Seminel und Jörg Zipprick im französischen Gastronomie Magazin gMag (siehe Links dazu weiter unten).
Nachfolgend ein Interview von Peter Lunas mit Jörg Zipprick über merkwürdige Vorgänge beim Guide Michelin in Frankreich
PL: Glauben sie an die Urteile des „Michelin France“?
JZ: In Frankreich scheinen einige der Drei-Sterne-Köche unter „Artenschutz“ zu stehen. Eine Auszeichnung für vergangene Leistungen um die französische Küche wäre sicher gerechtfertigt. Was der Gast aufgetischt bekommt, ist nicht immer Top-Qualität. Ich selbst orientiere mich eher an Mundpropaganda.
PL: Zu den großen Köchen Frankreichs gehörte auch Bernard Loiseau, der im Jahr 2003 Selbstmord beging. Im Jahr 2003 sagte der Pressesprecher des Michelin, man hätte nie an Loiseau gezweifelt. Steht das so im Dossier, dass der „L’Express“ druckt?
JZ: Derek Brown (ehemaliger Michelin-Direktor) attestiert Loiseau eine „seelenlose Küche“, der es an Charakter mangelt sowie „Unregelmäßigkeiten.“ Wenn dies die Art des Michelin ist, nicht zu zweifeln, wie klingt es dann, wenn der Direktor einen Stern einziehen will?
PL: Loiseau war in Frankreich ein besonders beliebter Koch, aber der Fall ist jetzt zehn Jahre her. Was haben ihre Co-Autoren und sie denn aktuell zum Guide zu sagen?
JZ: In den letzten acht Jahren hat der Michelin eine Wendung vollzogen. War es Wirten und Köchen früher verboten, mit Michelin-Auszeichnungen zu werben, können sie nun „Sterne zum Anschrauben“ und Michelin-Plaketten kaufen. Einige Inspektoren bewerten frühere Arbeitgeber bzw. deren Freunde und Konkurrenten. Die Lebensgefährtin des ehemaligen Direktors Jean-Luc Naret eröffnete während seiner Amtszeit einer Beratungsagentur für Köche. Ihr prominentester Kunde heißt Joel Robuchon. Akut in Gefahr sind zwei wesentliche Pfeiler der „Michelin-Legende“: Die Anonymität der Inspektoren sowie die finanzielle Unabhängigkeit von Köchen und Restaurateuren.
PL: Naret war Michelin-Direktor und seine Lebensgefährtin berät Köche? Ist sie vielleicht vom Fach?
JZ: Nein. Colette Poupon arbeitete als Model. Nachdem sie Naret kennen lernte, bot sie Köchen an, sie beim ihrem „kreativen Prozess zu begleiten“. Robuchon ließ sich wegen seiner Website beraten.
PL: Hat Robuchon jetzt gemogelt?
JZ: Ich glaube nicht, dass er das nötig hat. Nun wandern solche Beratungshonorare natürlich in die Haushaltskasse des Paares Naret-Poupon. Ich denke, dass steht in Widerspruch zur Unabhängigkeit, die Michelin stets für sich in Anspruch nimmt.
PL: Wie beschafft man sich als Koch die Namen der anonymen Tester?
JZ: In dem er andere Köche fragt. Tester verfügen über eine Art „Dienstausweis“ mit ihrem richtigen Namen. Den zeigen sie nach einer Visite vor. Ein Blick ins Reservierungsbuch reicht dann, um auch das Pseudonym und oft die Handynummer des Testers zu kennen. Koch-Kollegen tauschen sich diesbezüglich gerne aus. Die besten französischen Köche verfügen über Listen der Tester. In Fleißarbeit wurden darin so gut wie alle Tester der letzten dreißig Jahre erfasst.
PL: Der Koch will seine Bewertung und sein Investment schützen, das ist doch verständlich.
JZ: Genau so sehe ich es auch. Wollte Michelin jedoch anonym testen, könnte der Tester einfach ins Lokal gehen und am Schluss die Rechnung begleichen. Der Dienstausweis baut gewissermaßen Druck auf.
PL: Wieso ist die finanzielle Unabhängigkeit des Guides von den Köchen gefährdet?
JZ: Mal abgesehen vom Fall Naret: Michelin France verkauft mehr und mehr an Köche und Wirte: Blechsterne, Plaketten zum Beispiel. Für die „Wonderbox Michelin“, eine Art Geschenkgutschein, verzichtet der Wirt auf etwa 30% vom Umsatz. Dazu wird niemand gezwungen. Aber mit der Marke „Michelin“ lässt sich vieles verkaufen. Jean-Claude Vrinat, der ehemaliger Eigner des Pariser Lokals „Taillevent“, hat das Unbehagen seiner Branche auf den Punkt gebracht: „Was wird die Reaktion der Inspektoren gegenüber all denen sein, die ihr freundliches Angebot nicht angenommen haben?“ schrieb er an die Direktion.
In der neuen Website „Michelin Restaurants“ kann jeder Inhaber eines Restaurants außerdem seinen Platz kaufen. Für 69 Euro im Monat stellt Michelin dann die Fotos, Speisekarte oder Kurzbeschreibung des Wirtes herein. Das Angebot richtet sich ausdrücklich auch an Köche, die nicht von der Michelin-Redaktion ausgewählt oder getestet wurden.
PL: Worin sehen sie den Unterschied zwischen der Michelin-Website und dem bezahlten Einstellen von Fotos in anderen Guides?
JZ: Bezahlte Fotos werden meist Restaurants angeboten, die es in die redaktionelle Auswahl eines Führers geschafft haben. Auf „Michelin Restaurants“ kann auch ein wirklich schlechtes Restaurant selbst darstellen, immer vorausgesetzt, es fließt Geld.
PL: Was ist die Gefahr bei solchen Praktiken?
JZ: Dadurch gelangen Lokale ganz ohne Test auf die Michelin-Website. Gerade Michelin hat jedoch in seiner Eigenwerbung immer wieder die Unabhängigkeit betont.
Der Michelin greift inzwischen in die Geldbörsen der Köche. Ein Kunde hat jedoch – vollkommen zu Recht – andere Rechte und Erwartungen als ein simples „Testobjekt“. Der Koch wird momentan zum wichtigsten Kunden des Guide Michelin
PL: Sie berichten aus Frankreich über den „Michelin France“. Wie sieht es in Deutschland aus?
JZ: Michelin ist ein französisches, zentralistisch strukturiertes Unternehmen. Wichtige Entscheidungen fallen in Paris oder neuerdings in Boulogne-Billancourt. Die „bezahlte Website“ gibt es inzwischen auch in Deutschland. Der Preis ist identisch, nur heißt das französische „pack visibilité“ („Sichtbarkeitspaket“) hierzulande „Premium Paket“.
Die Originalbeiträge aus Frankreich
http://www.lexpress.fr/styles/saveurs/restaurant/les-sept-casseroles-du-guide-michelin_1212498.html