Michelin: Kulinarische Leitkultur oder Frankenstein-Gerichte? | BISS

Michelin: Kulinarische Leitkultur oder Frankenstein-Gerichte?

Marc Verrat Gericht

Der Michelin versucht eine neue Strategie

 

Wer aber gewinnt: Trickser oder ehrliche Handwerker?

 

Eine gut abgeschmeckte Analyse

von Jörg Zipprick

 

Der Jubel um Bras, der keinen Wert mehr auf seine Sterne legt, ist ein Sturm im Wasserglas (siehe BISS-Artikel „Die neuen 3-Sterne-Stars“). Weit interessanter ist, dass der Guide Michelin heute wohl mächtiger und wichtiger als je zuvor scheint. Das ist kein Zufall, sondern beruht zunächst einmal auf der Schwäche der meisten Konkurrenten: Etliche Gastronomiekritiker, die ihre Zunge als staatlich geprüftes Eichinstrument betrachten, produzieren heute als „Analyse“ verkleidetes Textgeschwurbel jenseits der Grenze des Lesbaren. Zahlreiche Guides und Kritiker führen gleich den Grundgedanken des eigenen Tuns ad absurdum, indem sie in vorauseilendem Gehorsam jeden Teller exzellent finden und selbst in zerfallendem Fisch und verkohltem Fleisch noch einen Ausdruck der „Philosophie“ des Kochs verorten.

Marc Veyrat & Bruno Melatti

Der neue 3-Sterne-Star Marc Veyrat & Souschef Bruno Melatti (r.)

Während die Kollegen in Grabenkämpfen verharren oder gegen sinkende Redaktionsbudgets kämpfen, verfolgt man im Hause Michelin eine Strategie, die in eine Reihe treffsicherer Entscheidungen mündete. Direktor Jean-Luc Naret ließ man ziehen. Seine damalige Freundin und jetzige Frau eröffnete während seiner Amtszeit die Agentur Co & Cie, die Köche beriet. Narets Nachfolger, der Texaner Michael Ellis, ist polyglott, wirkt durchweg seriös und arbeitet mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks. Beratende Tester und Mitarbeiter gibt es jetzt nicht mehr, auch sickern unter Ellis keine vertraulichen Informationen mehr zur französischen Presse durch. Das Geschäftsmodell bekam eine Frischzellenkur verpasst: Inzwischen können über den Michelin auch Restaurants gebucht werden. Zudem arbeitet der Michelin verstärkt mit Fremdenverkehrsämtern zusammen, die manche Guides ganz oder teilweise finanzieren. Restaurantkritik kostet Geld und das muss verdient werden. Ein Menü in einem französischen Spitzenrestaurant ist heute fünf bis zehn Mal kostspieliger als vor dreißig Jahren, auch ein börsennotiertes Unternehmen kann nicht jedes Jahr Millionen in Restaurantbesuche versenken.

Der neue Kurs des Michelin ist freilich nicht risikolos: Zuweilen dominiert das Marketing. Man darf sich ruhig fragen warum Anne-Sophie Pic die „Patin“ („marraine“) der 2018er Auslese ist. In den letzten hundert Jahren brauchten derart ausgezeichnete Köche keine Paten. Auch der Sinn des Erwerbs von 40% Anteilen am „Wine Advocate“ erschließt sich nicht sofort: Robert Parker ist in Rente, auch Bordeaux-Benoter Neal Martin hat den Weinadvokaten inzwischen verlassen. Wie lange die Marke unter diesen Umständen stark bleibt, muss man abwarten.

Einige Köche meinen, sie fühlen sich verpflichtet, am Reservierungsprogramm des Michelin teilzunehmen zu müssen. Andere Kritiker befürchten durch die Finanzierung der Fremdenverkehrsämter eine gewisse Einflussnahme auf die Urteile des Guides. In Korea kam es sogar zu einer parlamentarischen Anhörung bezüglich der Zahlungen an Michelin:

https://www.koreaexpose.com/korea-tourism-office-pays-michelin-guide-seoul/

Nicht erwähnt wurde bei der Diskussion jedoch, dass Korea genau wie Thailand in der Vergangenheit erhebliche Summen an die „50Best Restaurants“ überwiesen haben. Im Falle des Michelin scheinen Zahlungen der Fremdenverkehrsämter bisher nicht zu einer Sterne-Inflation geführt zu haben.

Gericht von Marc Veyrat

Gericht von Marc Veyrat

Nicht alles ist perfekt am Michelin: Im Shanghai Guide scheint mir die Vielfalt der chinesischen Küche zu kurz zu kommen. Und mir missfällt gewaltig, wie leichtfertig der Guide die Industrialisierung der Gastronomie und die massive Einführung von Zusatzstoffen und Labor-Aromen durchgenickt hat.

Nehmen wir mal ein leider recht typisches Rezept von Andoni Luis Aduriz aus dem Restaurant Mugaritz für ein Gericht namens „Leichtigkeit“: 0,5 g Haselnussessenz, 500 ml Mineralwasser, 1 g Aerosil (fumed silica), 5 g Albumin, 1,5 g Hypromellose, 100 g Maltodextrin. (Wer Aerosil nicht kennt, dem wird bei Wikipedia geholfen: https://en.wikipedia.org/wiki/Fumed_silica)

Weitere Zutaten gibt es nicht. In der Lebensmittelindustrie wären diese Zutaten deklarierungspflichtig, Verbraucherorganisationen würden ein Urteil über „Leichtigkeit“ fällen. Nicht so bei heutigen Hype-Köchen. Ist so etwas ein Zwei-Sterne Gericht, wo es laut Michelin bei der Sternevergabe doch auch um „gute Zutaten“ geht? Aduriz ist nicht allein, auch in Frankreich existieren derartige Frankenstein-Gerichte massenhaft. Solche Urteile sind für mich kein Ausdruck redaktioneller Freiheit, sondern ein Resultat redaktioneller Unkenntnis. Ein ehemaliger Inspektor bestätigt diesen Eindruck: „Wir haben die Verbreitung der Additive und künstlichen Aromen in der Küche nicht kommen sehen“ sagte er mir „Als wir begriffen haben, was passiert, war es zu spät. Was hätten wir tun können? Die Sterne einkassieren? Wie hätten wir beim Michelin dann ausgesehen?“

Es ist schwierig, in solchen Urteilen, keine Verbeugung vor andernorts gehypten Köchen zu erkennen. Zumindest in britischen Klassifizierungen gelten Gerichte auf der Basis erstklassiger Zutaten nicht mehr als Maß aller Dinge. „Gehypt“ werden heute schlanke, gutaussehende Köche, die mit Additiven und Maltodextrin Instagram-taugliche Skulpturen schaffen. Um Geschmack geht es bei diesen Köchen schon lange nicht mehr. Geschmack nämlich kann niemand auf Instagram und Facebook erfassen. Es geht um Follower und Likes, die sich in Werbe- und Sponsorengelder verwandeln lassen. Die Trickser stehen im Moment ganz oben in der internationalen Hierarchie der internationalen Medienlandschaft, die ehrlichen Handwerker ganz unten. Hier hat der Michelin so lange die Nase vorn, wie ein Bacquié, ein Pacaud, ein Ducasse oder ein Passard mit drei Sternen glänzen – denn er will ja ein Guide für Genießer bleiben.

 

Photocredit: Marc Veyrat

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