Die älteste Köchin der WeltMamuschka ist 99 | BISS

Die älteste Köchin der Welt
Mamuschka ist 99

Mamuschka in ihrer Küche in den 70er Jahren

Im Kellerlokal Scarlet Pimpernel traf sich viel Prominenz 

 

„Eesst Kiiindärchen eesst!“ Ihr Schlachtruf ist Legende, jetzt feierte Mamuschka ihren 99. Geburtstag und ist damit die wahrscheinlich älteste Köchin der Welt. Das Frankfurter Kellerlokal Scarlet Pimpernel in der kleinen Krögerstraße unweit des Eschenheimer Turms hat Küchengeschichte geschrieben und war das Wohnzimmer vieler Prominenter und Lebenshungriger. Die Rolling Stones und die Eagles schlemmten dort, Ray Charles, Elton John, Joe Cocker, Deep Purple, die Beach Boys, Ella Fitzgerald und der junge Michael Jackson. Sie alle schätzten das Private und Verschwiegene dieser wie kostbare Konterbande gehandelten Geheimadresse.

Im Scarlet Pimpernel sah man stets viele Künstler – bekannte und brotlose, die sich an den Gargantua-Portionen zu sozialen Preisen satt essen konnten. Auch Rainer Werner Fassbinder und seine Schauspieltruppe kamen gerne noch zu später Stunde. Andreas Baader attestierte Mamuschka gute Tischmanieren, wobei sie nie verstand, wie aus einem so braven Jungen ein Terrorist werden konnte. Für Mamuschka waren alle Gäste gleich und ihre „Kiiindärchen“. Einen Lieblingsgast hatte sie aber doch: Harry Belafonte. Wegen seiner noblen, bescheidenen Art und seines umwerfend guten Aussehens. Viele Stars kamen im Schlepptau der Konzertveranstalter Fritz Rau, Marek Lieberberg und Marcel Avram, die wahrhaftig einen Narren an Mamuschka gefressen hatten und deren Schützlinge bei ihr sicher vor Paparazzi und anderen aufdringlichen Menschen sein konnten. Wer ins Scarlet Pimpernel kam, genoss den Schutz der Matriarchin. Niemand getraute sich auch auch nur über Umwege nach Autogrammen zu fragen. Zudem glaubte jeder, der hier Gast war, selbst ein Prominenter zu sein.

Mamuschka mit Esther Ofarim

Als Marianne „Mamuschka“ Kowalew das Kellerlokal unter ihrem Wohnung am 1. November 1969 eröffnete, brannten im Kachelofen Holz und Briketts. Die schlichte Einrichtung war aus Schwartenbrettern zusammengenagelt, das Mobiliar wurde aus einer alten Mühle und einem verfallenem Bauernhof zusammengetragen. Große Kerzenleuchter und eine rot schimmernde Beleuchtung  sorgten für eine warme  stimmungsvolle Atmosphäre. Zentrum war die große offene Küche mittendrin, in der mit Feuer und Flamme die temperamentvolle Mamuschka in den wuchtigen Töpfen rührte und die Pfannen zischen ließ. „Nehmt, fresst, vermehrt euch und seid glücklich“. Mamuschka war ebenso originell und eigenweillig, wie die meisten ihrer Gäste, das schaffte eine besondere und homogene Atmosphäre. Erkennungszeichen waren ihre teilweise aberwitzigen Turbane, mal schick, mal mit Bananen bestückt. Mamuschka liebte alles, was glitzerte, raschelte und bei Bewegungen irgendwie Musik machte. Sie war eine unglaubliche Melange aus Gräfin Mariza und operettenhafter Zigeunerbraut. Wild und ungestüm und doch auch oft feinfühlig im Umgang mit anderen.

Die ihrem Sternzeichen Wassermann zugeschriebenen Eigenschaften wie Freiheitsliebe und Dynamik waren bei der polnischen Exzentrikerin besonders ausgeprägt. Marianne Kowalew wuchs in armen Verhältnissen im polnisch sprachigen Wilna in Litauen an der Grenze zu Weißrussland auf, türmte mit 17 von Zuhause, verliebte sich in den Spross einer reichen Industriellenfamilie aus Wilna, flüchtete Ende des Zweiten Weltkriegs nach Frankfurt, wo sie von der Gestapo verhaftet wurde. Nach der Geburt ihres einzigen Sohnes Peter früh Witwe geworden, eröffnete sie 1955 gemeinsam mit ihrem damaligen Lebenspartner ihr erstes Lokal in Frankfurt, die Gräfin Mariza. Es ist die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders, Frankfurt wird mit der Luxusdirne Rosemarie Nitribitt Symbol des Aufschwungs und seiner Abgründe. Auch bei Mamuschka geht es turbulent zu, sie und ihr Liebhaber verspielen ihr gesamtes Vermögen. Ende der sechziger Jahre eröffnet sie dann mit ihrem Sohn Peter das Scarlet Pimpernel in der Krögerstraße 7.

Mamuschka

Nie hat Mamuschka nach Rezepten oder den Wünschen anderer gekocht, sondern ließ sich nur von der eigenen Inspiration treiben. Ihr Herd erschien wie ein Schrein, um den sich die Gemeinde versammelte. Man futterte wie bei Muttern in ungehemmter Atmosphäre – meist zu viel. Damals wurde mehr Wodka als Wein getrunken – die Gäste wollten dass üppige Essen und natürlich auch ein wenig sich selbst auflockern. Es waren Gelage mit Wildschwein- und Hirschkeulen, die im Ganzen im Ofen gebacken wurden. Es wurde alles gleich am Herd aufgeschnitten und auf die Teller gepackt. Mit viel, viel guter fetter Soße  und prallen „Kneedeln“. Gefüllter Fasan, Karpfen und Borschtsch galten als Spezialitäten, Gulasch und Hackbraten waren noch beliebter. Einer der auf Borschtsch abonnierten Stammgäste war Franz Keller, streitbarer Gastronom und badische Winzerlegende vom Kaiserstuhl.

Eine Speisekarte gab es nicht, es wurde das gegessen, was auf den Tisch kam. Beim stattlichen Gutsherrenbuffet gab es kein Limit, die Gäste durften zulangen, so oft sie wollten und konnten. Für einen Pauschalpreis von 45 DM, inklusive Wodka und Kuchen, den man sich meist mit nach Hause nahm, weil der Magen wegen Überfüllung geschlossen hatte. Mamuschka kochte ihre polnisch-russischen Gerichte stets allein und besaß auch keinen Küchenhelfer in Gestalt einer Spülmaschine. Als alle Gäste gegangen waren, schleppte sie Geschirr und Bestecke wieder in ihre Wohnung zurück. Der Lokalname Scarlet Pimpernel basiert auf dem von den Kowalews geliebten Mantel- und Degen-Roman der ungarisch-englischen Baroness  Emmuska Orczy. Erkennungszeichen des Buchhelden ist die scharlachrote blühende Wildblume Scarlet Pimpernel – die auch eine Heilpflanze ist, „welche bei Melancholie und allgemeiner Verrücktheit helfen soll“.

Mamuschka in ihrem Kellerlokal 2010

Peter Kowalew, Architekt, Gastronom und Hobbykoch, baute den im Jahre 2002 abgebrannten Keller zu einem gemütlichen Gewölbe mit warmen Sandsteinmauern um. Das neue Konzept heißt seitdem: Rent your own Restaurant. Hier kann jeder selbst zum Gastronomen werden und seine Gäste mit eigenen Speisen und Getränken bewirten, Platz ist für gut 60 Personen. Es lassen sich aber auch ein Koch und Servicepersonal anheuern, Mamuschkas Enkel Alexej ist in ihre Fußstapfen getreten. Peter Kowalew, der Anfang der achtziger Jahre mit seinem Le Caveau am Deutschherrnufer 29 ein Sterne-Restaurant betrieb (Wildhasenrückenroulade mit Pumpernickelsauce), setzt nach wie vor auf Qualität. Das zeigt sich schon bei seinem Fassbier, dem erstklassigen, ungespundeten und hefetrüben Kellerbier von St. Georgen Bräu  (1624 gegründet) aus dem fränkischen Buttenheim. Der hausgemachte ungeschwefelte Apfelwein wird aus den eigenen Gärten am Goetheturm gewonnen. Als Ausschankwein gibt es nicht irgendeinen Tropfen, sondern einen weißen Châteauneuf-du-Pape von Mont-Redon.

Bei ihrem 90. Geburtstag tanzte Mamuschka barfuß durchs Lokal. Auch zur Buchmesse 2010 stand sie noch für ihre Gäste im Kellerlokal.  „Ich bin nicht verrückt, aber extravagant“, sagte sie oft. Und genau so hieß auch das damals erschienene Buch von Halldór Gudmundsson über sie, mit dem Untertitel „Mamuschkas Lebensrezepte“. Mamuschka hat zwar so etwas wie Heesters-Gene, doch bei ihrer Geburtstagsfeier zum 99. musste sie nicht selbst am Herd stehen. Franz Keller junior von der Adlerwirtschaft in Hattenheim im Rheingau half als Freund der Familie mit einem Menü aus. Mamuschkas Enkel Alexej Kowalew geht dort in die Lehre.

Ludwig Fienhold

 

Scarlet Pimpernel, Frankfurt, Krögerstraße 7, Tel. 069 61 41 81.  www.scarlet-pimpernel-club.com

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